Deutsche Schulzeugnisse verfehlen ihren Sinn

Nicht nur bei SchülerInnen läuft es manchmal nicht so wie es soll. Auch das Schulsystem selbst hat einiges an Nachholbedarf, unter anderem bei Zeugnissen.

Wie heißt es so schön? „XY hat sich stets bemüht“. Betrachtet man jedoch, wie deutsche Schulzeugnisse aussehen, was sie aussagen und was sie eigentlich aussagen sollten, so kann man von „Mühe“ kaum noch sprechen. Deutsche Schulzeugnisse verfehlen ihren Sinn und im Folgenden erfahrt ihr warum. 

Was ist ein Zeugnis?

Laut dem Duden handelt es sich bei einem Zeugnis um eine „urkundliche Bescheinigung, {…} die meist in Noten ausgedrückte Bewertung der Leistungen von Schülern enthält“. Bereits diese Bedeutung möchte ich hinterfragen, wenn wir wirklich von Bewertungen von SchülerInnen sprechen. Was SchülerInnen doch wirklich brauchen, ist ein Feedback und keine urkundliche Bescheinigung von Noten. Denn Noten geben kein Feedback. Weder beschreiben sie, noch erklären sie. Noten veranschaulichen Leistungen lediglich in Zahlen und das ist durchaus etwas sehr gutes zum Messen von Leistungen! Aber als „urkundliche Bescheinigung“, die ein oder zweimal im Jahr ausgestellt wird, verfehlt ein Zeugnis seinen eigentlichen Sinn.

Betrachten wir doch, was ein Schul-Zeugnis wirklich beinhalten sollte, um für SchülerInnen brauchbar zu sein. 

  • Individuelle Übersicht über das Lernverhalten und die Entwicklung der Schülerin/ des Schülers im Zeitraum, den das Zeugnis abdeckt
  • Klare Darstellung von Talenten, Interessenfeldern, Begabungen, die die Schülerin/ der Schüler in dem Zeitraum entdeckt oder entwickelt hat
  • Deutliche Hervorhebung von sehr guten Leistungen
  • Auflistung der Problemfelder bei schlechten oder mangelhaften Leistungen mit Problembeurteilung durch die jeweilige Lehrkraft 
  • Pro Fach individuelle Beurteilung der Arbeit, der Leistungen und des sozialen Verhaltens des Schülers/ der Schülerin durch die Lehrkraft. Diese Beurteilung in Form eines Kommentars, in dem sowohl Stärken als auch Schwächen aufgezeigt werden und der Schülerin oder dem Schüler ehrlich mitgeteilt wird, woran sie oder er arbeiten muss
  • Notentendenzen, die klar angeben, ob sich die Schülerin oder der Schüler seit dem letzten Zeugnis verschlechtert oder verbessert hat
  • Entwicklung der zwischenmenschlichen Kompetenzen, zum Beispiel in Gruppenarbeiten
  • Übersicht über die bisher erbrachten Leistungen – in Noten ausgedrückt
Was sollte ein Zeugnis können?

Und was zeigen „Zeugnisse“ heute wirklich?

  • Übersicht über die bisher erbrachten Leistungen – in Noten ausgedrückt
  • Bestenfalls eine Tendenz der Noten
  • Bis zur Jahrgangsstufe 10 ein kleiner Satz wie „Schüler XY hat sich sehr gut in die Klassengemeinschaft integriert und immer fleißig mitgearbeitet“.

Sich zu verbessern, an sich zu arbeiten und Schwächen zu identifizieren liegen primär im Ermessen einer jeden Schülerin/ eines jeden Schülers. Stimmt das wirklich? In höheren Jahrgangsstufen mag das durchaus Sinn ergeben. Die Grundlagen dafür müssen jedoch schon in der Mittelstufe gelegt werden und zwar durch ausführliche, ehrliche und brauchbare Feedbacks.

Die Schule sollte mehr als ein Ort der puren Wissensweitergabe sein. Die Schule sollte ein Ort der Wissensentwicklung, Weiterentwicklung, Fortbildung und ein Ort des persönlichen Wachstums sein. Dafür benötigt es doch mindestens ein ehrliches Schulzeugnis, das Rückmeldung gibt. Anderenfalls ist das Zeugnis unter Umständen zu einem traurigen Schicksal verurteilt: Das Notenpapier schafft es teilweise gar nicht bis nach Hause, sondern landet zerknittert und zerrissen im Schulranzen. Und das ist nicht ausschließlich die Schuld der SchülerInnen! Denn was könnte das Papier auch schon so wertvoll machen? Noten, die ohne jeglichen Kommentar auf dem Papier stehen und einen niedermachen? Wohl kaum.

Natürlich, würde man obige Punkte alle in ein Zeugnis integrieren – und das ist doch gewissermaßen das Mindeste, die Liste könnte man nämlich noch weiterführen- so hätte man pro Schüler:in eine Leistungsbeurteilung die bei 12 Fächern schonmal 20 Seiten umfassen kann. Aber genau so muss es sein! 20 ehrliche Seiten, 20 Seiten, aus denen ehrliche Lektionen gezogen werden können! Ja, natürlich ist das viel Arbeit. Aber ist es das nicht wert?
Und wer jetzt denkt, das wäre maßlose Papierverschwendung – ist es nicht. Denn man muss das Zeugnis ohnehin nicht in Papierform aushändigen. Andernfalls widerfährt Zeugnissen nun mal oben beschriebenes Schicksal und was hat man schon davon, wenn das Dokument auf schönem Papier ausgedruckt ist? Nichts. Selten muss man heutzutage noch eine Bewerbung mit Bewerbungsmappe und Kopie des Zeugnisses einreichen – dem Klima sei dank. Und wer schaut sich schon seine Zeugnisse nach Schulabschluss selbst an? Richtig. In digitaler Form gäbe es natürlich datenschutzrechtliche Probleme, aber diese zu lösen müsste nun wirklich kein Problem sein.

Kompetenzorientierter Unterricht findet in anderen Bereichen wie der pädagogischen Ausbildung von Tagesmüttern schon lange Zeit statt. Aber den SchülerInnen gönnt man keine Kompetenzorientierung?

Mit gutem Beispiel vorangehen: UWC

Es gibt doch tatsächlich Schulen, die das Modell Zeugnis gegen das Modell Feedback eingetauscht haben. Als Beispiel dafür, wie man es besser machen könnte , verwende ich jenes einer guten Freundin, Lea, die ein United World College (UWC) in Armenien besucht. Die United World Colleges sind 18 sehr angesehene, internationale Oberstufeninternate, auf denen Jugendliche aus über 80 Nationen und mit unterschiedlichsten Hintergründen gemeinsam die letzten Schuljahre absolvieren. Als Abschluss erhalten die SchülerInnen den auf der ganzen Welt anerkannten International Baccalaureate (IB) – das internationale Abitur. Alle erfolgreichen BewerberInnen erhalten für die Schule ein Stipendium, das sich an dem finanziellen Hintergrund der Familie orientiert. Ziele der Schule sind unter anderem internationales, kulturelles Verständnis, Nachhaltigkeit und Toleranz. Lea besucht das UWC seit gut einem Jahr. Davor ging sie auf ein normales bayrisches Gymnasium. Durch ihr außergewöhnlich großes politisches Engagement und einer erfolgreiche Bewerbung erhielt sie ein Stipendium für die Schule, die sie nun bis zum Erhalt ihres IBs besucht. Für Lea sind persönliches und ehrliches Feedback zum Alltag geworden: Als Zeugnis erhält jede Schülerin und jeder Schüler in jedem Fach  einen sehr ausführlichen und konstruktiven Kommentar der Lehrkraft, zusätzlich zu den Noten. In diesem wird individuell auf Stärken und Schwächen eingegangen. Das Zeugnis wird am Ende jedes Halbjahres digital hochgeladen. Die SchülerInnen loggen sich dann einfach ein und können Einsicht nehmen. Das Beste daran? Bei Problemen können sie die entsprechende Lehrkraft sofort kontaktieren. 

Wieso also nicht immer so? In einem Gespräch mit ihr habe ich mich wirklich zurückgelassen gefühlt, als ich von ihrem so umfangreichen Zeugnis erfahren habe. Denn im Vergleich dazu haben die Zeugnisse, die ich in meiner Schullaufbahn erhielt – ja sogar trotz außerordentlich guter Leistungen- nur das Schicksal im Schulranzen verdient…

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